Schon auf der Reise begegnet Aki Elias (Orlando Klaus), dessen Schicksal mit dem ihrer Eltern verknüpft ist. Der Schicksalsglaube ist in Japan bis heute stark ausgeprägt. Diese kulturellen Eigenheiten lässt die in Japan geborene Regisseurin in leisen Momenten in ihre Erzählung einfließen. Die dialektgeprägte Sprache der Allgäuer klingt grob gegenüber Akis melodischem Japanisch. Elias Familie, die Webers, nehmen die junge Reisende bei sich auf, da die örtliche Herberge belegt ist. Der Vater Johannes Weber (Hans Kremer) begegnet Aki misstrauisch, nicht wegen ihrer Fremdheit, sondern weil sie verdrängte Erinnerungen in ihm weckt. Innerlich glaubt er, sie zu kennen und auch Aki spürt diese Vertrautheit. Mit seinem Sohn, der gerne mit dem Motorrad herumrast, streitet Johannes immer häufiger. Gemeinsam mit Elias, der sich halb brüderlich, halb romantisch zu ihr hingezogen fühlt, sucht Aki nach dem unbekannten Besonderen, welches irgendwo auf dem vom roten Punkt markierten Gebiet sein soll. Sie findet einen Grabstein, den ihrer Eltern. Johannes Weber und Elias aber finden durch Akis Suche mit der unaufgearbeiteten Vergangenheit konfrontiert, zu sich selbst und zueinander.
Der rote Punkt ist der symbolische weiße Fleck in Akis Biografie. Er markiert eine zweifache Leerstelle: den Verlust ihrer Familie und einen Wendepunkt in ihrem Leben, an den sie sich nicht erinnern kann. Viele gewichtige Assoziationen drängen sich hier auf. Die Selbstsuche einer jungen Frau, das Finden eines Schuldigen, das Rätsel der Vergangenheit. Doch mit leichter Hand fegt Marie Miyayama solch überflüssigen Ballast beiseite. Aki hat sich längst gefunden. Nur ein wenig Sicherheit fehlt ihr, um dies auszudrücken. Dafür steht der intensive Lippenstift. Erst probiert sie ihn zaghaft aus, am Ende wandert sie mit geschminktem Mund aus dem Film. Die Biografie ihrer Eltern ist durch das Wissen um deren Todesumstände endlich für Aki abgeschlossen. Einen Schuldigen sucht die junge Frau nicht. Das Geschehene hat sie immer als Unfall wahrgenommen. Daran ändert das für ihn befreiende und schmerzliche Geständnis Johannes Webers nichts. Er ist die problembelastete Figur des Films, den die Vergangenheit nicht los lässt. Der schwierige Umgang Webers mit seinem Sohn Elias scheinen sowohl Webers Schuldgefühl als auch einer unbewussten Schuldzuweisung von ihm an Elias geschuldet. Der Unfall ereignete sich in der Nacht von Elias Geburt, als Weber ins Krankenhaus fuhr. Webers Gewaltausbruch gegen Elias ist metaphorische Bestrafung für dessen Geburtstag, Selbstbestrafung Webers und Bestrafung für Elias Übernehmen des schlechten Verhaltens seines Vaters, des Rasens auf der Straße. Durch Akis unbeschwerten und dennoch ernsthaften Umgang mit ihrer Biografie, lernt Johannes Weber sein eigenes Erbe zu akzeptieren.
An dem rituellen Totenessen, welches sie für ihre Eltern bereitet, lässt sie Johannes Weber bewusst teilhaben. Erst während dieses Picknicks vor dem Gedenkstein der Eltern begreift er, wie schwer die Schuldgefühle auf ihm lasteten. Doch er ist fähig, sich zu öffnen und von Akis Milde zu lernen. Dies zeigt ein zweites rituelles Mahl, zu dem Aki die Webers einlädt, ohne daran teilzunehmen. Kein Totenessen, sondern eine Art Versöhnungsgeste zwischen den Familienmitgliedern. Es ist eine ungewöhnliche und zärtliche Umsetzung der japanischen Sitte. Und hier schließt Miyayamas Erzählung schon, nach nicht einmal eineinhalb Stunden. Ein kleiner, preisgekrönter Film ohne viel Aufsehens. “Der rote Punkt” im Filmprogramm, welchen man sich merken sollte.
Titel: Der rote Punkt
Start: 4. Juni
Regie und Drehbuch: Marie Miyayama
Darsteller: Yuki Inomata, Hans Kremer, Orlando Klaus, Imke Büchel
Verleih: Movienet Film GmbH